Der textblog im Juni 2009:

Schluss ist nicht gleich Schluss

Diesmal geht es um das Thema Sprachmelodie. Ich finde es sehr interessant, dass sich der Charakter eines Satzes nur durch Umstellen der einzelnen Satzteile manchmal komplett verändert – und zwar wegen der Sprachmelodie. Nehmen wir folgenden Text als Beispiel: Farben spielen in der subjektiven Wahrnehmung von Menschen eine wichtige Rolle. Diesem Bereich haben wir bei der Entwicklung des railjet daher große Aufmerksamkeit gewidmet. Außerdem vervollständigen leicht gefärbte, indirekte Lichtelemente die angenehme Stimmung im railjet.“ Der ganze Text endet mit diesem Absatz; dass es sich um das Ende handelt, sollte hier irgendwie mitschwingen – tut es aber nicht. In dieser Form ist es kein guter Schluss. Jetzt bauen wir den Satz nur ein wenig um, sodass sich der Absatz so liest: „Farben spielen in der subjektiven Wahrnehmung von Menschen eine wichtige Rolle. Diesem Bereich haben wir bei der Entwicklung des railjet daher große Aufmerksamkeit gewidmet. Leicht gefärbte, indirekte Lichtelemente vervollständigen die angenehme Stimmung im railjet.“ Und schon eignet sich der gleiche Satz als Schluss – witzig, oder?

Ich gebe zu: Das sieht auf den ersten Blick ein wenig nach Haarspalterei aus. Aber wenn man sich die Betonung der Worte genauer ansieht, wird es klarer. Im ersten Satz liegt die Betonung entweder auf „Lichtelemente“, auf „Stimmung“ oder gar auf dem letzten Wort „railjet“. Dadurch kommt keine passende Sprachmelodie zustande. In der zweiten Version aber liegt die Betonung – wenn der Satz richtig gelesen wird – auf „vervollständigen“; ab dann geht der Tonfall nach unten und schließt so den Text passend ab.

Wenn man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht …

Liebe Textblog-Besucher! Lesen Sie einmal folgenden Satz: „Generationen von Besuchern und Sankt Petersburgern haben sich in den berühmten Weißen Nächten auf langen abendlichen Spaziergängen am Ufer der Newa von ihrer Schönheit verzaubern lassen.“ Alles klar? Nicht wirklich! Denn der Autor hat seinen Satz mit so vielen Einschüben versehen, dass man nicht mehr versteht, was er meint. Wovon haben sich Generationen von Besuchern und Sankt Petersburgern verzaubern lassen: Von der Schönheit der Weißen Nächte, der langen abendlichen Spaziergänge, der Newa oder gar von ihrer eigenen? Alles ist möglich – nicht nur beim Lotto, auch bei manchen deutschen Sätzen, wie man sieht. Hier wären zwei Regeln für bessere Verständlichkeit angebracht gewesen: 1.) Ein Satz sollte nie mehr als 25 Worte haben, und 2.) weniger ist mehr.

Mein Vorschlag, um alles Wichtige unterzubringen und dabei verständlich zu bleiben: „Generationen von Besuchern und Sankt Petersburgern haben sich schon von der Schönheit der Newa verzaubern lassen.“ Damit wäre einmal das Wichtigste gesagt – und alle haben’s verstanden. Jetzt folgt ganz gemütlich der Rest: „Ihre Ufer laden vor allem in den berühmten Weißen Nächten zu langen abendlichen Spaziergängen ein.“ Wie so oft zeigt sich, dass es besser ist, zwei kürzere Sätze als einen langen zu schreiben. Ihre Leser werden es ihnen danken, und vor allem: Ihre Botschaft wird besser verstanden!

Was ich ja auch recht interessant finde, …

… ist die Unterscheidung zwischen „beide“ und „die beiden“. Die meisten Menschen denken, es gäbe dazwischen keinen Unterschied. Meiner Meinung nach gibt es den aber sehr wohl: „beide“ hat eine trennende Bedeutung, „die beiden“ eine verbindende. Bahnhof? Okay, ich formuliere es deutlicher:

Neulich las ich in einer Zeitschrift folgenden Satz: „Beide Seiten lieferten sich tagelange Gefechte.“ Alles klar? Ich finde nicht. Hier bekämpft sich nämlich sowohl die eine als auch die andere Seite tagelang selbst. Es müsste heißen: „Die beiden Seiten lieferten einander tagelange Gefechte.“ Der Grund liegt in der Sprachmelodie: Im ersten Fall liegt die Betonung auf „beide“, weil es das erste Wort ist. Im zweiten Satz wird automatisch „Seiten“ betont, wodurch der Satz eine andere Bedeutung erhält. Den Unterschied zwischen „sich“ und „einander“ brauchen wir ja nicht zu besprechen.